Lena Jahn ist Psychologin, Sexualpädagogin und Mitbegründerin des Vereins safer spaces – Fachstelle für sexuelle Bildung und Gewaltprävention. Gemeinsam mit dem achtköpfigen Team verfolgt sie das Ziel, ein breites Angebot an sexueller Bildung und Gewaltprävention in Tirol und darüber hinaus zu schaffen. Lena ist vor allem in der Erwachsenenbildung tätig und versucht mit dem Projekt unzensiert! in der Erwachsenenarbeit Räume zu schaffen, um über Sexualität, Körperlichkeit und Beziehungen zu sprechen.

Sexuelle Bildung oder Sexualpädagogik – das sind Begriffe, die viele vermutlich mit „Sexualkundeunterricht“ für Kinder und Jugendliche an der Schule verbinden. Wenn wir in unserem Freund*innen- und Bekanntenkreis herumfragen, berichten die Leute oft von ähnlichen Abläufen in der Schule – wenn überhaupt Sexualkunde stattgefunden hat: Kondome über Bananen, Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten und Schwangerschaftsverhütung – lange sah Sexualpädagogik genauso aus.

Doch sexuelle Bildung kann mehr! Denn sie entwickelt sich weg von einer reinen Prävention vor Gefahren (frühe Schwangerschaft, Geschlechtskrankheiten, Gewalt etc.) hin zur ganzheitlichen Auseinandersetzung mit Körper, Sexualität und Beziehungen. Dabei wirken Inhalte der sexuellen Bildung nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Wie ist das gemeint?

Individuelle Ebene

Ziel qualitativ hochwertiger sexueller Bildung ist es, Räume zu öffnen, in denen sich Menschen mit ihrer eigenen Identität, ihrem Körper, ihrer Sexualität und ihrer Art und Weise Beziehungen zu gestalten auseinandersetzen können. Viele Menschen unterliegen dem Mythos, Sexualität und Beziehungsgestaltung wäre eine angeborene Fähigkeit. Nein! Sexualität und Beziehungsgestaltungen sind zum großen Teil erlernt. Dabei lernen wir von Vorbildern, Medien, gesellschaftlichen Normen, eigenen Erfahrungen, etc. Aufgabe der sexuellen Bildung ist es, Menschen dazu zu befähigen, das Gelernte kritisch zu reflektieren, die Vielfalt der Möglichkeiten aufzuzeigen und damit die eigene Selbstbestimmtheit zu stärken. Dabei ist sexuelle Bildung ein lebenslanger Prozess, denn in jedem Lebensalter stehen wir vor neuen Fragen und Herausforderungen.

Doch wenn sexuelle Bildung so wichtig ist, warum herrscht vielerorts, vor allem aber auch in Tirol, ein Mangel an Angeboten zu Themen der sexuellen Bildung?

Gesellschaftliche Ebene

Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft. Was bedeutet das? Das Patriarchat

beschreibt ein System von sozialen Beziehungen, maßgebenden Werten, Normen, Regeln und Verhaltensmustern, das von (cis) Männern geprägt, kontrolliert und repräsentiert wird.

Viele dieser Regeln zeigen sich als Diskriminierung. Das zu ändern ist schwierig, auch wenn viele Frauen und andere marginalisierte Personen schon lange dafür kämpfen. Einige Beispiele um dies zu verdeutlichen sind die Ungleichverteilung von Sorge- und Care-Arbeit, der Gender-Pay- Gap oder die enormen Zahlen der genderbasierten Gewalt, gipfelnd in der hohen Zahl der Femizide in Österreich[1].

Sexuelle Bildung, die auf Wissen und Reflexion basiert,  stellt sich gegen das Patriarchat, indem sie FLINTA*[2] Personen und ihre Positionen stärkt und damit den Zwang toxischer Geschlechterrollen sowie heteronormativer L(i)ebens- und Begehrensweisen aufbricht. Angesetzt im Kindesalter hat sexuelle Bildung  das Potenzial, bereits Kindern zu zeigen, wie vielfältig Identitäten, Sexualität, Körper, Beziehungen und Lebensweisen sein können und wie Menschen miteinander umgehen können, ohne die Grenzen des Gegenübers gewaltvoll zu überschreiten. Eine Disziplin, die sich gegen vorherrschende Normen einer Gesellschaft stellt, hat es nicht immer leicht. Das spiegelt sich auch auf politischer Ebene.

Politische Ebene

Sexuelle Bildung ist politisch. Warum? Zum einen wird Sexualität selbst beeinflusst durch gesellschaftlich-politische Einflüsse (Arbeitszeiten, Familienpolitik, Konsumgewohnheiten, Medien uvm.). Zum anderen nimmt Sexualität Einfluss auf die Politik (z.B. ist die rechtliche Gleichstellung von Homosexualität maßgeblich auf die Kämpfe queerer Menschen zurückzuführen). Sexuelle Bildung sollte für die politischen Ebenen von Sexualität sensibilisieren. So sollen Menschen dazu befähigt werden, in einer demokratischen Gesellschaft zu Themen wie sexualisierter Gewalt, Gleichstellung aller Geschlechter oder Rechte queerer Personen Stellung beziehen und handeln zu können. [3]

Workshopaufnahme ©saferspaces

Was bedeutet das nun?

Am Beispiel der sexuellen Bildung kann gezeigt werden, dass sich der Wirkmechanismus von Bildung nicht nur auf das  Individuum und seine Stärkung (Empowerment) beschränkt, sondern weitläufige Wellen im System schlägt. (Sexuelle) Bildung hat das Potenzial, das gesellschaftliche und politische System positiv zu verändern. Gleichzeitig bedarf es einiger Mühen, um gegen die vorherrschenden Restriktionen, Normen und Tabuisierungen der Gesellschaft anzukämpfen. Menschen, die in der (sexuellen) Bildung arbeiten, arbeiten immer in einem Spannungsfeld zwischen Individuum, Gesellschaft und Politik.

Als ich mir zu Beginn des Schreibprozesses Gedanken über dieses Thema gemacht habe, hatte ich den Wunsch, eine mögliche Utopie zu formulieren. Wie könnte eine (sexuell) gebildete Gesellschaft aussehen?

Gleichberechtigt und Queerfreundlich? Auf die Grenzen der Anderen und der Eigenen bedacht? Ohne struktureller und genderbasierter Gewalt? Oder zumindest weniger davon? Menschen, die über ihren Körper, ihre Bedürfnisse und Wünsche Bescheid wissen und diese kommunizieren können?

Das wünschen wir uns zumindest! Wir sind safer spaces – Fachstelle für sexuelle Bildung und Gewaltprävention. Über info@saferspaces.at  und der Telefonnummer +43677 61389261 könnt ihr uns erreichen und gemeinsam mit uns an dieser Utopie arbeiten 🙂

©saferspaces

Zum Weiterlesen:

  • Sexuelle Bildung und Queerfeministische Kämpfe – AEP informationen Nr.4 2023

  • Sexualität – Ein illustrierter Leitfaden – Meg-John Barker & Jules Scheele

  • Radikale Zärtlichkeit – Seyda Kurt

Fußnoten und Quellen:

[1] Im Jahr 2023 wurden laut Medienberichten bereits 28 Frauen ermordet, davon waren mutmaßlich 26 Femizide, und es gab 41 Mordversuche bzw. Fälle schwerer Gewalt an Frauen (vgl. Amnesty International).

[2] FLINTA* steht für Frauen, Lesben, Inter, Nichtbinär, Trans und Agender.

[3] Valtl, Karlheinz (2013): Sexuelle Bildung: Neues Paradigma einer Sexualpädagogik für alle Lebensalter. In: Schmidt, Renate-Berenike/ Sielert, Uwe (Hrsg.) (2013): Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. 2. erweiterte und überarbeitete Auflage. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. S. 125-140.